Samstag, 15. Januar 2011

"Manchmal sitze ich da und weine"

Die Trauergeschichte einer starken Frau

„Alle habe ich um mich herum sterben sehen“, berichtet die 75-jährige Hannelore Winter*, Kriegsgeschädigte und Bewohnerin der Universitätsstadt Ilmenau. Im Alter von zehn vergnügen sich unsere Kinder auf Spielplätzen und Parks, das Klettergerüst der gezeichneten Dame war der 2. Weltkrieg. Selbst als jüngste Tochter von acht Kindern blieb ihr kein Anblick erspart: „Wir mussten die Toten im Handwagen zum Friedhof bugsieren und“, zittert ihre Stimme, „der Wächter legte diese in Massengräber mit der Aufschrift: ‚Hier ruht ein unbekannter Soldat‘.“

Nicht nur in der heutigen Zeit steht Diebstahl unter Strafe, auch damals war sich die einfache Bevölkerung dessen bewusst. Aber die Ausnahmesituation der Hungersnöte rechtfertigte das Entwenden von Kartoffeln und Äpfel auf staatlichen Äckern. “Wir mussten doch irgendwie über die Runden kommen“, bedauert die Ilmenauerin, die nur aus Überlebenswillen zum Handeln gezwungen wurde. So auch ihre Mutter, die Hannelore Winter mit nicht einmal 16 Jahren an einen Gutshof nach Burgrain gab. „Als Hausmädchen für Alles war ich mir keiner Aufgabe zu schade. Von Schuhputzen bis Kloreinigung, jedem Wunsch bin ich nachgekommen.“ So streckt sie ihre durch Arbeit und Narbengewebe geprägten Hände entgegen, als hielte man zwei historische Dokumente.

Die Sonnenseite des Lebens lernte die damals 18-Jährige erst mit ihrem späteren Gatten kennen. Romantische Nächte am Schloss Burgrain seien bei den Beiden keine Seltenheit gewesen, erklärt sie freudestrahlend. Ihr Mann, der zugleich Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens war, sei immer für eine Überraschung gut gewesen. Mit einer eigentlich unmöglichen Raddampferfahrt über den Mittellandkanal eroberte er ihr Herz endgültig.

„Viele Jahre des Glückes durfte ich erleben, aber die Umwelt zeichnete uns“, schleicht sich eine Träne in ihr Auge. Ihr Mann, der als Kriegsveteran und Tischler stets für sein Vaterland an vorderster Front stand, wurde mit Krankheiten übersät. „Sie müssen sich vorstellen, wie schlimm es sein kann, wenn der Geliebte vor ihnen liegt und ‚Hilf mir!‘ mit heißer Stimme säuselt“. Jahrelange Pflege des Krebs gebeutelten Ehemannes und dennoch erliegt er dem Tod durch Tumore. Als wäre dieses Schicksal nicht schwer genug, verliert sie ihren einzigen Sohn 4 Jahre später durch die Hände von Raubmördern. Innerhalb kürzester Zeit den Altar des Abschiedes erneut betreten zu müssen, hinterließ nicht wenige Spuren.

Scheinbar alleingelassen von der Welt, rafft sich Hannelore Winter auf, um den letzten Abschnitt ihres eigenen Lebens zu bestreiten. „Mit der Hilfe meiner mir verbliebenen Tochter werde ich der Demenz und Kraftlosigkeit entgehen. Ich habe zu viel erlebt, um am Schicksal zu scheitern.“ Ein Satz, der förmlich vor Lebenswille überquillt. Aber dem gegenüber stehen die stark prägenden Ereignisse der Jugend. Die Ilmenauerin verabschiedet sich jedes Jahr aufs Neue von ihrem Mann und Sohn auf dem Friedhof in Burgrain: „Ich gewinne dadurch neue Kraft, hier auf Erden zu bleiben“, beglaubigt sie, „aber manchmal sitze ich da und weine.“

(*Name durch Autor verändert)

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